In einem Gastbeitrag, den ich für die „Friedens-Warte“, die älteste Zeitschrift im deutschsprachigen Raum für Fragen der Friedenssicherung und internationaler Organisationen, geschrieben habe, beschäftige ich mich mit der Aufklärung des Überwachungs- und Geheimdienstskandals und dem Verhältnis von Geheimnissen und Transparenz in demokratischen Rechtsstaaten. Meinen Beitrag dokumentieren wir hier. Den Originalbeitrag findet Ihr auch auf den Seiten der Friedens-Warte.

Der demokratische Rechtsstaat und das Geheimnis der Dienste – Neubewertung eines Spannungsverhältnisses

von Konstantin von Notz

Wir leben in Zeiten eines rasanten technischen Fortschritts. Neben allen Chancen und Lebensverbesserungen, die er mit sich bringt, dürfen erhebliche Gefahren für unsere Privatsphäre und die informationelle Selbstbestimmung nicht übersehen werden: Die totale Überwachung der Zivilbevölkerung und eine völlig entgrenzte Spionage zwischen mehr und weniger befreundeten Staaten ist heute technisch möglich und vielfach traurige Wirklichkeit.

In dieser Zeit muss das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, von rechtlichen Befugnissen der Dienste und ihrer parlamentarischer Kontrolle, von notwendigem Geheimschutz und öffentlicher Debatte neu definiert werden. Die bisherigen Erkenntnisse aus der sogenannten NSA-Affäre, die auch eine BND-Affäre ist, zwingen uns in den Demokratien westlichen Typs, das Verhältnis von freiem Rechtsstaat und staatlichem Geheimnis grundlegend und neu zu hinterfragen.

1 Die Enthüllungen Edward Snowdens

Im Sommer 2013 lüftete Edward Snowden einen Teil des Schleiers, der über einem weltweiten Überwachungssystem der USA und einiger ihrer Verbündeten gelegen hatte. Die Bundesregierung reagierte darauf vermeintlich erstaunt. Mitten im Bundestagswahlkampf war man zunächst vor allem damit beschäftigt, den Whistleblower als unseriös abzutun und eigene Erkenntnisse oder gar Beteiligungen an dem System empört abzustreiten.

Als bekannt wurde, dass auch das Handy der Kanzlerin abgehört worden war, stilisierte sich die Bundesregierung selbst zum Opfer und rettete sich, indem sie in der Hochphase des Wahlkampfes zwei Dinge versprach: einerseits ein sogenanntes „No-Spy“-Abkommen mit den Amerikanern, andererseits die schnelle Verabschiedung der EU-Datenschutzreform. Beides gibt es bis heute nicht.

Ihre angebliche Ahnungslosigkeit und Unschuld unterstrich die Regierung unter Angela Merkel, indem sie versicherte, zu keinem Zeitpunkt an Abhöraktionen der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) beteiligt gewesen zu sein. Deutsche Stellen, so die Bundesregierung, agierten vielmehr stets im Rahmen des geltenden Rechts, das Grundrechte im Übrigen ganz hervorragend schütze. Kanzlerin Merkels Ausspruch: „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht“ ist längst zum geflügelten Wort geworden – und sollte sich zu einem Bumerang für die Dienste und das Kanzleramt entwickeln.

2 Bundesregierung von Anfang an wenig glaubhaft

Angesichts der von Edward Snowden und einer Reihe engagierter Journalist_innen veröffentlichten Dokumente waren die Aussagen der deutschen Bundesregierung von Anfang an wenig glaubhaft. Viel wahrscheinlicher war bereits zu diesem Zeitpunkt, dass Edward Snowden nur die Spitze des Eisbergs sichtbar gemacht hatte und deutsche Behörden an einem weltweiten System zur flächendeckenden Erfassung elektronischer Kommunikation intensiv beteiligt waren. Die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, der nicht nur die Aktivitäten der sogenannten Five-Eyes-Staaten, sondern auch die der eigenen Geheimdienste beleuchtet, war deshalb unausweichlich.

Die Arbeit des „1. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode“ begann mit einem gutachterlichen Blick auf das nur scheinbar so mustergültige deutsche Recht. Das einhellige Urteil der drei Staatsrechtler Hoffmann-Riem, Papier und Bäcker vor dem Hintergrund der bekannt gewordenen Praktiken des Bundesnachrichtendienstes fiel verheerend aus. Sie wiesen in überraschender Deutlichkeit auf eklatante Schutzlücken im geltenden Recht hin. Dabei hoben sie vor allem den mangelnden Grundrechtsschutz im Artikel 10- und BND-Gesetz hervor. Unisono betonten sie in der denkwürdigen Anhörung am 22. Mai 2014 zudem die aus der Verfassung abzuleitende Pflicht des Staates, die Bürger vor Verletzungen ihrer Freiheitsrechte zu schützen und einen effektiven Schutz unserer digitalen Infrastrukturen sicherzustellen.

Sogar die Bundesregierung scheint diese Erkenntnis mittlerweile zu teilen. Öffentlich bekundete sie seither mehrfach, endlich an der Aufklärung mitwirken zu wollen. Tatsächlich aber behindert sie die Aufklärungsarbeit des Ausschusses in vielen Bereichen bis heute.

3 Erkenntnisse aus eineinhalb Jahren Untersuchungsausschuss

Die Aufklärung der internationalen Geheimdienst- und Überwachungsaffäre durch den Untersuchungsausschuss ist in den vergangenen eineinhalb Jahren von verschiedener Seite und mit unterschiedlichen Methoden immer wieder immens behindert worden. Trotz zahlreicher Widrigkeiten hat der Ausschuss aber bis heute wichtige Erkenntnisse gewonnen.

So wurde dem Bundesnachrichtendienst (BND) eine weitreichende Kooperation mit amerikanischen und britischen Diensten nachgewiesen. Im Tausch gegen die begehrte Überwachungstechnik (Soft- und Hardware) der Five-Eyes-Staaten wurde ihnen Zugriff auf Daten aus deutschen Netzen und bei deutschen Netzbetreibern gewährt.

Die mantraartig vorgebrachte Behauptung der Bundesregierung, man habe von alldem nichts gewusst und sich an derartigen Praktiken ausländischer Dienste nicht beteiligt, konnte klar widerlegt werden. Deutlich wurde: Die Bundesregierung war nicht Opfer, sondern wusste sehr genau um die rechtswidrigen Praktiken der ausländischen und deutschen Dienste. Man tolerierte diese nicht nur wissentlich jahrelang, sondern versuchte darüber hinaus, sie voranzutreiben. So zum Beispiel durch das Ausstellen höchst fragwürdiger „Freibriefe“ aus dem Kanzleramt, um rechtliche Bedenken von Netzbetreibern bei einem Abgriff der Daten durch den BND ohne eine G10-Anordnung auszuräumen.

4 Sabotage der parlamentarischen Aufklärung

Der BND, aber auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spielen eine aktive Rolle in einem weltumspannenden, geheimdienstlichen Überwachungssystem. Hierüber informierten das Bundeskanzleramt und die Dienste selbst die zuständigen parlamentarischen Kontrollgremien bewusst nicht bzw. falsch und sabotierten die verfassungsrechtlich verankerte demokratische Kontrolle in diesem Bereich über Jahre.

Derzeit dreht sich die öffentliche Diskussion vor allem um den Einsatz sogenannter „Selektoren“ – BND-eigener und von US Diensten eingespeister Suchbegriffe, um die erfassten, gigantischen Datenmengen zu durchrastern. Nicht nur die USA setzten massenhaft missbräuchliche Selektoren ein, die angeblich von deutscher Seite trotz zahlreicher Hinweise niemals ordentlich geprüft bzw. weitergemeldet wurden. Damit sollte der BND für die NSA einen Großteil der Ministerien von EU-Staaten, inklusive ganzer Mitarbeiterstäbe, überwachen. Die Hinweise darauf, dass auch der BND – ebenfalls rechtswidrig – eigene Selektoren missbräuchlich verwendete, verdichten sich seit Monaten.

Der Ausschuss kann dem Missbrauch bis heute nicht vollständig auf den Grund gehen, da ihm der Einblick in die entsprechenden Listen von Suchbegriffen vom Bundeskanzleramt verwehrt wird. Allein eine von der Bundesregierung eingesetzte und von den Koalitionsfraktionen mitgetragene Vertrauensperson, Dr. Kurt Graulich, Richter am Bundesverwaltungsgericht a.D., durfte die Listen bislang einsehen.

5 Ein fragwürdiger Bericht

Dessen jüngst veröffentlichter, viele neue Fragen aufwerfender Bericht kann eine eigene und unmittelbare Einsichtnahme der Mitglieder des Untersuchungsausschusses, d.h. eine effektive und unabhängige parlamentarische Kontrolle, nicht ersetzen. Zusammen mit der Fraktion Die Linke wehren wir uns derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht gegen diese Entmachtung des Bundestages und die Vorenthaltung originärer parlamentarischer Kontrollrechte. Denn der Untersuchungsauftrag des Ausschusses wird unterlaufen, wenn nicht mehr die Abgeordneten aufklären, sondern die Bundesregierung in kollusivem Zusammenwirken mit der Ausschussmehrheit lediglich Scheinaufklärung betreibt.

Der Bericht kritisiert zwar deutlich einen missbräuchlichen Einsatz von Selektoren durch US Dienste. Nicht einmal diese Kritik kann jedoch angesichts seines höchst begrenzten Untersuchungsgegenstandes als ausreichend oder abschließend bezeichnet werden. Darüber hinaus weisen die Darstellungen der „Vertrauensperson“ erhebliche Widersprüche zu vielen Erkenntnissen aus der eineinhalb-jährigen Aufklärungsarbeit auf.

Schließlich führt der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Bericht deren eigene Argumentation zur vermeintlich notwendigen Geheimhaltung der Selektorenlisten ad absurdum: Die Regierung hatte diese mit einer Gefährdung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA begründet. Vor allem sei im Falle einer Offenlegung der Selektoren gegenüber den Parlamentariern – immerhin einem verfassungsrechtlich verbrieften Verfahren – die zukünftige Zusammenarbeit der deutsch-amerikanischen Geheimdienste gefährdet. Schon angesichts des einstimmig im deutschen Bundestag beschlossen Auftrages des Untersuchungsausschusses, die Rolle der deutschen Dienste in einem kooperativen, weltweiten, geheimdienstlichen Überwachungssystem aufzuklären, ist diese Argumentation unhaltbar.

Nun kommt hinzu, dass der veröffentlichte Bericht verwerfliches Verhalten allein den Amerikanern vorwirft. Erneut gibt man vor, deutsche Stellen hätten sich stets rechtstreu verhalten. Derartig einseitige und verzerrende Darstellungen wie diese sind es, die diplomatische Beziehungen und das transatlantische Verhältnis gefährden.

6 Weitere Aufklärungshindernisse

Die Selektorenlisten sind nur ein Beispiel für die anhaltende Sabotage der parlamentarischen Aufklärung durch die Bundesregierung. Ganze, klar unter den – interfraktionell beschlossenen – Untersuchungsauftrag zu subsumierende Bereiche können durch die Abgeordneten bislang nicht untersucht werden. So wissen wir zwar, dass die Kooperation zwischen BND und amerikanischen Nachrichtendiensten weit über das bislang bekannte Maß hinausgeht, können diesen Hinweisen aber bis heute nur bedingt nachgehen.

Der Spiegel berichtete beispielsweise über die Operation „Monkey Shoulder“, in welcher der BND insbesondere mit dem britischen Geheimdienst kooperierte. Die Existenz dieser Operation konnte der Untersuchungsausschuss bislang nicht bestätigen, da ihm der ordentliche Zugang zu den entsprechenden Akten noch immer vorenthalten wird. Allein den Obleuten der Fraktionen und dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses ist in dieser Sache eine partielle Einsichtnahme vereinzelter Akten in den Räumen des Bundeskanzleramtes eingeräumt worden. Über deren Inhalte darf grundsätzlich aber nicht gesprochen werden.

Die Frage, wie so eine reguläre Arbeit des Gremiums und effektive Aufklärung stattfinden soll, wenn nicht einmal die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses auf gleichem Kenntnisstand sind, beantwortet die Bundesregierung nicht. Höchst zweifelhaft bleibt somit auch, wie unter diesen Umständen ein ordnungsgemäßer Abschlussbericht entstehen soll.

Dieses äußerst bizarre und rechtlich nicht gedeckte Vorgehen steht in einer Reihe von Versuchen der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen, den Untersuchungsausschuss mit allen noch so abstrusen Mitteln an seiner Aufklärungsarbeit zu hindern. Diese besteht darin, Licht ins Dunkel zu bringen, um schließlich politische Verantwortlichkeiten klar benennen und die richtigen Konsequenzen und Handlungsempfehlungen aussprechen zu können.

7 Edward Snowden bleibt Schlüsselzeuge

Ein weiteres Beispiel ist die bislang hintertriebene Zeugenvernehmung Edward Snowdens, der zweifelsohne eine Schlüsselfigur der Affäre ist. Klar ist: Für die Erfüllung des Untersuchungsauftrages wäre seine Zeugenaussage von zentraler Bedeutung. Als Geheimdienst-Insider könnte er das veröffentlichte Material und unsere Erkenntnisse aus mehreren hunderttausend Seiten Akten in die ihm bekannte Praxis einordnen und dem Ausschuss so zu weiteren wichtigen Erkenntnissen verhelfen. An seiner Glaubwürdigkeit besteht nach den Erkenntnissen der letzten eineinhalb Jahre kein Zweifel.

Mittlerweile bestreitet nicht einmal mehr die Bundesregierung die Authentizität der veröffentlichten Dokumente. Dennoch weigert sie sich bis zum heutigen Zeitpunkt, die rechtlichen Voraussetzungen für eine Vernehmung von Snowden in Berlin zu schaffen. Sie verletzt aus unserer Sicht damit klar ihre Pflicht aus Artikel 44 Abs. 1 GG. Die Ausschussmehrheit aus Union und SPD verfolgt jedoch auch hier – offenbar zur Schonung der eigenen Bundesregierung – eine Verzögerungstaktik und weigert sich, den Antrag zu bescheiden. Sie vertagte ihn und befragte stattdessen die Regierung dazu, ob sich denn etwas an deren bisheriger Einschätzung zum Zeugen Snowden geändert habe.

Vor dem Bundesverfassungsgericht klagten wir gegen die Ausschussmehrheit, die unseren Antrag auf Vernehmung von Edward Snowden in Deutschland verworfen hatte. Das Verfassungsgericht deklarierte diesen Antragsgegenstand zu einer reinen Verfahrensfrage, für die es nicht zuständig sei. Aus Artikel 44 Abs. 1 GG folge kein Recht der Minderheit auf eine Vernehmung Snowdens in Deutschland. Mit dieser Haltung wendet sich das Gericht bedauerlicherweise von seiner bisher minderheitenfreundlichen Rechtsprechung ab. So sehen es auch Spezialisten auf dem Gebiet des Untersuchungsausschussrechts, wie Lars Brocker. In der Besprechung des BVerfG-Beschlusses macht er deutlich, dass ein Verfahrensantrag auf Beweiserhebung sehr wohl dem Minderheitenrecht im Untersuchungsausschuss diene, für welches das Bundesverfassungsgericht und nicht der BGH zuständig sei (Zeugenvernehmung durch den NSA-Untersuchungsausschuss „in Moskau“ ein Fall für den BGH?, NVwZ 2015, 410-412).

Im Falle einer Ablehnung des von uns inzwischen erneut gestellten Antrages von Seiten der Ausschussmehrheit, und wegen der zentralen Bedeutung der Zeugenvernahme Snowdens, werden wir in dieser Frage erneut klagen, diesmal vor dem Bundesgerichtshof.

8 Die Wahrheit liegt nicht (immer) in den Akten

Die Bedeutung einer Vernehmung Snowdens ist auch angesichts einer möglichen Akteneinsicht nicht zu relativieren. Denn strukturelle Probleme beim Aktenzugang relativieren derzeit die grundsätzlich richtige Weisheit „Die Wahrheit liegt in den Akten“.

Der Untersuchungsausschuss erhält weder die BND-Akten noch alle Akten des Verfassungsschutzes im Original. Stattdessen legt die Bundesregierung den Mitgliedern eine eigens für den Ausschuss erstellte Kollektion von Akten vor. Dienste und Bundesregierung scheinen durch die eigene Zusammenstellung bestimmen zu wollen, was zum Untersuchungsgegenstand des Ausschusses gehört und was nicht. Ein umfassender Ein- bzw. Überblick wird so erheblich erschwert.

Diese Praxis steht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach soll sich ein Untersuchungsausschuss grundsätzlich auf Basis vollständiger Akten ein selbstständiges Bild vom Untersuchungsgegenstand machen können.

Darüber hinaus erhält der Ausschuss ganz überwiegend nur solche Akten, aus denen unzählige Seiten herausgenommen oder großflächig von den zu kontrollierenden Organisationen und Beamten selbst geschwärzt wurden. Die Begründungen hierfür beschränken sich meist auf pauschale, unüberprüfbare Verweise. So wird an Tausenden (!) von Textentnahmen bzw. –schwärzungen lapidar auf das Staatswohl, die Methodik des BND, eigene Definitionen der Untersuchungsgegenständlichkeit und andere Gründe verwiesen, um dem parlamentarischen Gremium die Kenntnisnahme vorzuenthalten.

Zwar sprechen Mitarbeiter der Fraktionen mit der Bundesregierung immer wieder über einzelne Schwärzungen, flächendeckend ist ein solches Verfahren aber angesichts der Vielzahl der betroffenen Stellen nicht zu leisten. Dies gilt umso mehr angesichts der begrenzten Ressourcen der Oppositionsfraktionen. Die Bundesregierung entzieht sich damit vorsätzlich und offenkundig bösartig ihrer verfassungsrechtlichen Darlegungslast.

Die Auflistung der Hindernisse, welche die Arbeit des Ausschusses erheblich einschränken, könnte an dieser Stelle fortgesetzt werden ­­­­­– so wurde beispielsweise den Ausschussmitgliedern und Abgeordneten des Deutschen Bundestages in fragwürdigen, von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten von US-Kanzleien unverhohlen mit Einreiseverboten in die Vereinigten Staaten gedroht.

9 Geheimnisse und rechtsstaatliche Reformen

Worauf läuft das alles hinaus, was hier über die Aufklärungsarbeit des Ausschusses und die Behinderung seiner Arbeit durch Bundesregierung, Bundeskanzleramt und Ausschussmehrheit berichtet wurde? Dazu sei noch einmal an den Eingang dieses Beitrages erinnert: Die USA und andere Five-Eyes-Staaten haben unter Geheimhaltung auch vor ihren eigenen Parlamenten ein umfassendes Überwachungssystem der Kommunikation nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern noch intensiver der „jeweils ausländischen“ Weltbevölkerung entwickelt.

An diesem Programm haben auch bundesdeutschen Geheimdienste partizipiert und eigene Beiträge zur weltweiten Überwachung geleistet. Das zeigen Operationen wie Eikonal, Glotaic und Monkey Shoulder, aber auch die Selektorenlisten. Die Intensität und genaue Struktur dieser Beiträge sollen ganz offensichtlich weiterhin vor dem Untersuchungsausschuss, dem Parlament und der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Geheim gehalten werden soll beispielsweise, nach welchen Kriterien und nach welchen Standards die globale Metadatenerfassung und Rasterung funktioniert. Und das, obwohl selbst die Koalitionsfraktionen vorgeben, den Bereich neu und rechtsstaatlicher regeln zu wollen. Wie hoch aber die Grundrechtsbelastungen derzeit überhaupt sind, die der Gesetzgeber rechtsstaatlich einhegen soll, bleibt in vielen Bereichen im Dunkeln.

Die einzige Legitimation geheimdienstlicher Tätigkeit in Rechtsstaaten aber lautet: Rechtsstaatliche Bindung durch volle und eisenharte parlamentarische Kontrolle. Wenn aber die Exekutive und die Dienste selbst diese Kontrolle hintertreiben und sabotieren, sägen sie mit Hingabe an dem rechtsstaatlichen Ast, der ihre Existenz begründet. Ein Parlament, das sich das gefallen ließe, würde nicht nur sich selbst delegitimieren, es würde auch einer Erosion des Vertrauens des Souveräns in Rechtsstaatlichkeit Vorschub leisten. Und deswegen brauchen wir zwingend Klarheit. Der Deutsche Bundestag muss exakt wissen, was in diesen Bereichen strukturell passiert, um dann entscheiden zu können. Diese Ansicht steht zweifellos in scharfem Konflikt zur tradierten Haltung – nicht nur – der Bundesregierung in diesem Bereich. Ausreichend schienen bisher pauschale und lakonische Hinweise auf „Arbeitsweise und Methodik der Dienste“ oder die völlig unspezifische Berufung auf das Staatswohl, um ganze Bereiche im Dunkeln zu lassen.

Ich will zwei weitere Bereiche nennen, in denen sich das Problem in voller Hässlichkeit jüngst gezeigt hat: Der Bundestag hat bei der „Reform“ des Bundesverfassungsschutzgesetzes auch über eine – im Ergebnis unzureichende – rechtsstaatliche Eingrenzung der V-Mann-Tätigkeit diskutiert. Auf welcher Grundlage? Auf einer vollständig unzureichenden! Denn die V-Mann-Tätigkeit, die gerade Anlass für das Tätigwerden des Gesetzgebers war, wird gerade bei der Verstrickung in rechtsradikale Umtriebe nicht offen gelegt. Dies gilt sogar dann, wenn es ersichtlich keinerlei konkrete Geheimschutzgründe mehr geben kann. So wurde meiner Fraktion eine konkrete Frage nach einem möglichen (längst verstorbenen) V-Mann im Zusammenhang mit dem Jahrzehnte zurückliegenden Oktoberfestanschlag pauschal verweigert. Auch dagegen gehen wir derzeit beim Bundesverfassungsgericht vor. Denn es ist für uns eindeutig, dass eine rechtsstaatliche Regelung vor der demokratischen Öffentlichkeit nicht verantwortet werden kann, wenn wir gar nicht wissen, was das genaue Regelungsobjekt eigentlich tut.

Welches Dogma wir hier zu stürzen haben, wird vielleicht am folgenden Beispiel noch deutlicher: Worum ging es im Fall der vorgeblich von netzpolitik.org verratenen Staatsgeheimnisse, der sogenannten „Landesverrats-Affäre“? Der Bundesverfassungsschutz wollte – ohne zusätzliche gesetzliche Ausgestaltung – in die umfassende, inländische Online-Überwachung und -auswertung des Internet einsteigen. So etwas kostet natürlich, wenn man es großflächig anlegt, sehr viel Geld. Deshalb gab es Haushaltsvorlagen, die geheim waren. Denn wir haben ja ein vom Bundesverfassungsgericht vor sehr langer Zeit und unter anderen Umständen gebilligtes System der geheimen Haushaltskontrolle im Geheimdienstbereich. Damit hätte, wenn es denn so gelaufen wäre, wie vom Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesregierung geplant, niemand je von der Intensität und dem Umfang einer neuen und ganz erheblichen Belastung für die Grundrechte in Deutschland erfahren. Das kann nicht sein. Denn auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat vor dem Hintergrund der durch Technisierung immer weitergehenden Möglichkeiten von Überwachung und Kontrolle mehrfach gefordert, dass der Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit in diesen neuen Zeiten die Gesamtbelastung der Grundrechte im Auge haben muss. Wie soll das aber gehen, wenn wir Struktur und Intensität derartiger Belastungen der Grundrechtssphäre nicht kennen? Die Antwort dieses Beitrages ist: Es geht schlicht nicht.

Die durch Snowden aufgedeckte globale, arbeitsteilig organisierte Überwachung unserer Kommunikation konnte nur im Verborgenen entstehen. Sie entspricht einer ausschließlich an exekutiven Logiken ausgerichteten Maschinerie, die zu einem solchen Schmutzhaufen unter dem Teppich der Demokratien westlichen Typs erst werden konnte, weil Parlamente und Justiz bewusst umgangen und in Unkenntnis gelassen wurden. Das hat nichts damit zu tun, das Geheimdienste in bestimmten, klar definierten Einzelfällen auch im Geheimen operieren können müssen. Aber selbst hier halte ich lediglich eine Geheimhaltung für eine bestimmte Zeit – längstens 25 Jahre – für legitim.

Die Strukturen der Dienste, ihre Tätigkeitsfelder und Methodik müssen aber transparent sein, in ihrer grundsätzlichen Gestalt und Praxis für die Öffentlichkeit und bis ins letzte Detail, jederzeit und tagesaktuell für die parlamentarischen Kontrollinstanzen.