In diesem Jahr wird unsere Verfassungsdemokratie 60 Jahre alt. Vieles hat sich bewährt, viel wurde erreicht. Dennoch ist keine Zeit für Selbstzufriedenheit und Schulterklopfen. Von maßlosen Überwachungsfantasien bis zum offenen Propagieren des so genannten Feindesstrafrechts, die Bedrohungen für unseren – wie es so schön heißt – freiheitlichen Rechtsstaat sind mannigfaltig. Eine derzeit weniger im Fokus stehende Gefahr sei hier heute angesprochen: Der Ansehensverlust der staatlichen Gewalten oder härter gesprochen: Die teilweise selbst verursachte Delegitimierung der staatlichen Gewalten.

„Nur Zyniker werten die sinkende Wahlbeteiligung als Zustimmung zum Status quo“

Politik- und Parteienverdrossenheit sind gegenwärtig feste Bestandteile der gesellschaftlichen Diskussion. Wer das Gespräch mit den Menschen sucht, kann ein weit verbreitetes Misstrauen und eine wachsende Skepsis gegenüber den staatlichen Institutionen wahrnehmen. Fragt man heute danach, welche Themen die Menschen am meisten bewegen, so wird die Frustration und Enttäuschung über Skandale an prominenter Stelle genannt; oftmals gleich nach der Sorge um den Arbeitsplatz. Die Folge ist eine zunehmende Apathie gegenüber unserem demokratischen System, die deutlich in einer stetig sinkenden Beteiligung an Wahlen zum Ausdruck kommt. Einzig Zyniker interpretieren diese alarmierende Entwicklung dahingehend, die wachsende Gruppe der Nichtwähler dokumentiere mit ihrer Entscheidung ihre Zustimmung zum Status quo.

„Es droht ein irreversibler Verlust des Ansehens der Vertreter staatlicher Gewalt“

Der Ansehensverlust der demokratischen Institutionen wird durch einen Prozess zunehmender Verwirtschaftlichung verstärkt. Dieser macht auch vor den staatlichen Gewalten nicht halt. Die eigentlich nur ihrem Gewissen, der Verfassung und dem Gemeinwohl verpflichteten Repräsentanten von Legislative, Judikative und Executive gehen vielfach -oftmals ganz bewusst- zusätzliche Verpflichtungen ein, welche ihre Unabhängigkeit zumindest gefährden. Medien und die verwunderte Öffentlichkeit müssen immer öfter feststellen, dass offensichtlich niemand mehr über den Dingen steht. Die Folgen des Eingehens solcher Abhängigkeitsverhältnisse sind fatal. Es droht ein fast irreversibler Verlust von Ansehen und Status der Gewaltenrepräsentanten.

„Lobbyisten greifen an sensiblen Stellen ein“

Die Diskussion um Nebentätigkeiten, Lobbyismus und Offenlegung von Nebeneinkünften bei Bundestags- und Landtagsabgeordneten wird seit vielen Jahren geführt, hat jedoch auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren. Wir erinnern uns: Nach dem Skandal um Zahlungen an Abgeordnete ohne erkennbare Gegenleistung hat der Bundestag eine teilweise Offenlegung der Nebeneinkünfte beschlossen. Die Klagen von Abgeordneten hiergegen folgten prompt. Nur äußerst knapp, nämlich mit einem 4:4 Votum, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Offenlegung von Einkünften durch Abgeordnete vom 4. Juli 2007 die neuen Regelungen für verfassungskonform erklärt. Es verweist auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Abgeordneten zum Vertreter des ganzen Volkes bestimmt und ihn in dieser Eigenschaft für weisungsfrei und nur seinem Gewissen unterworfen erklärt.

Doch die Wirtschaft hat erkannt, dass sich gezielte Einflussnahme durchaus lohnt. Zunehmend manipulieren Lobbyisten die Legislative an sensiblen Stellen, sie nehmen Schlüsselpositionen in Ministerien ein und schreiben maßgeblich an Gesetzesvorlagen mit. Durch diese unlautere Einflussnahme werden unsere demokratischen Mehrheitsfindungsprozesse konterkariert. Allein in Berlin tummeln sich inzwischen über 5000 Lobbyisten, 2000 Verbände, 100 selbständige Unternehmensrepräsentanzen. Hinzu kommen Lobbyagenturen, wirtschaftspolitische Think-Tanks, Beraterfirmen und auf den Bereich des Lobbyismus spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien. Dieser ganze Apparat kostet natürlich viel Geld, doch die Tätigkeit all dieser Einflussnehmer rechnet sich offenbar.

Angesichts dieser erheblichen Angriffe auf die Unabhängigkeit der Legislative, deren Intensität weiter zunehmen wird, reichen die jüngst geschaffenen Regelungen zur partiellen Offenlegung von Nebeneinkünften bei Weitem nicht aus. Nach diversen Skandalen ist das Vertrauen zumindest durch den bösen Schein zerstört. Die Legislative muss sich davon befreien und vollständige Transparenz herstellen. Eine Karenzzeitregelung für den Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin. Die gegenwärtige Entwicklung jedoch ist eher gegenläufig: Gerade wurde im schleswig-holsteinischen Landtag die Übernahme der Bundes-Transparenzregelungen von CDU, SPD und FDP abgelehnt. Und je nach Ausgang der bevorstehenden Bundestagswahl steht auch zu befürchten, dass die aus Bundesebene geltenden Regelungen ebenfalls wieder aufgeweicht werden.

“Sine spe ac metu verum pecunia non olet”

Auch die Judikative bleibt zumindest vom bösen Schein nicht verschont: Zahlreichen Richterinnen und Richter genügt heute der Gerichtssaal als Betätigungsfeld nicht mehr. Sie halten Seminare, jobben bei Repetitoren, führen außergerichtliche Schiedsverhandlungen und fertigen hoch dotierte Gutachten an. Eine Erhebung in Baden-Württemberg ergab, dass etwa 50 Prozent der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit einem Nebenjob nachgehen und dabei teilweise erheblich dazuverdienen. Alles frei nach dem Motto: Sine spe ac metu verum pecunia non olet.

Doch auch hier stellt sich die Frage, wie frei von Hoffnung und Furcht ein Richter ist, der noch am Wochenende zwischen zwei großen Einzelhandelsunternehmen schiedst und dann am Montag die Kündigungsschutzklage einer Kassiererin gegen ihren Arbeitgeber entscheiden muss. Und selbst wenn man die Unabhängigkeit der Richterschaft nicht in Zweifel ziehen möchte, ist die negative Außenwirkung des Umstands, dass das hohe Gericht in seiner Freizeit auf eigene Rechnung unterwegs ist, nicht zu unterschätzen. Wegen der Folgewirkungen solcher „verdienstvoller“ Nebentätigkeiten musste in Schleswig-Holstein vor geraumer Zeit ein Staatssekretär zurücktreten.

Zwar wird die Zulässigkeit von Nebentätigkeiten davon abhängig gemacht, dass das Vertrauen in Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Unbefangenheit der RichterInnen nicht gefährdet wird. Doch wird jeder zugeben müssen, dass diese Grenzziehung eine vage ist und sich die Auslegung dieses Grundsatzes regional unterscheidet. Während von den knapp 500 Bundesrichtern vor elf Jahren nur etwa 15 Prozent Nebeneinkünfte angaben, schätzt man heute, dass fast alle BGH-Richterinnen und -Richter einer Nebentätigkeit in der einen oder anderen Form nachgehen. Der Ausnahmefall wird zur Regel.

Sicherlich kommt hier grundsätzlich auch das Problem unangemessener Bezahlung zum Ausdruck. All zu oft wurde auch die Besoldung der Richterschaft in den letzten Jahren das Opfer knapper öffentlicher Kassen. Doch diejenigen, die mit diesem Argument die Nebentätigkeiten und –verdienste rechtfertigen, seien gewarnt: Angesichts der absehbaren Entwicklung der öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren lässt sich dieses Argument auch umdrehen. Weitere Kürzungen könnte der Weg mit dem Argument geebnet werden, wem es nicht reiche, der könne ja problemlos etwas dazuverdienen.

„Nach Dienstschluss auf Gaddafis Payroll“

Und schließlich bleibt auch die Polizei vom Nebenjobtrend nicht verschont. So arbeiteten im Jahr 2008 fast 1000 Berliner Polizisten nebenbei. In deutschen Großstätten schwanken die (offiziellen) Zahlen zwischen 10% und 20% der Belegschaft. „Die Polizei, Dein Freund und Helfer“ – auch nach Dienstschluss. Natürlich müssen diese Tätigkeiten genehmigt werden, was allerdings eine Anmeldung voraussetzt, die wohl nicht immer erfolgt. Die Gewerkschaft der Polizei fürchtet aufgrund der durch Inflation über die letzten Jahre faktisch begründeten Lohnkürzung eine weitere Zunahme der Nebenjobs bei Polizeibeamten. Und gibt es nicht auch hier Verwischungen, wenn einem der Polizeibeamte am Wochenende als Bademeister begegnet und in der Woche als ermittelnder Polizeibeamter? Entstehen nicht auch für ihn Situationen und Abhängigkeitsverhältnisse im Nebenjob, die dem Anspruch an einen Beamten der Exekutive widersprechen?

Vor Kurzem wurden die Aktivitäten einer deutschen Privatfirma bekannt, die mit Hilfe von gut 30 Spezialisten der Polizei aus mehreren Bundesländern Sicherheitsschulungen in Libyen durchgeführt hat. Auch mindestens ein Soldat soll mitgemacht haben. Der Bedarf an polizeilichem Know-How in Ländern wie dem wenig rechtsstaatlichen Libyen ist erheblich, dem Ansehen der Exekutive im eigenen Land nutzt eine Polizei, die „nebenher“ auf der Payroll eines Gaddafi steht, aber sicherlich nicht.

„Kultur der Transparenz und wirkliche Unabhängigkeit“

Dies alles gilt es vor dem Hintergrund einer historischen Wirtschaftskrise zu bedenken, die derzeit noch hauptsächlich in den Zeitungen steht und über die Bildschirme flimmert, die aber erst im Laufe der nächsten Monate in voller Härte bei den Menschen ankommen wird. Nach allem, was wir heute wissen, wird diese Krise nicht nur eine Herausforderung für unser Wirtschaftssystem, sondern auch für unsere Demokratie. Eine solche Herausforderung kann aber nur eine Demokratie meistern, die das Ansehen und Vertrauen der Bevölkerung genießt. Die Bürgerinnen und Bürger müssen darauf vertrauen können, dass die staatlichen Gewalten frei, unabhängig, gesetzeskonform, souverän und neutral handeln und entscheiden. Dafür ist es zwingend erforderlich, dass die Verantwortlichen über jeden Zweifel erhaben sind. Eine gewerbliche Nebentätigkeit der Repräsentanten des Staates ist damit nicht vereinbar. Grundlage für das Handeln von Abgeordneten, von Richterinnen und Richtern und der Polizei darf einzig das Gesetz, das eigene Gewissen, das Allgemeinwohl und der gesunde Menschenverstand sein, nicht jedoch vermeintlich eigene Vorteile und Vergünstigungen außerhalb ihres Beamtenverhältnisses. Damit der Verfassungsstaat auch 60 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes glaubwürdig bleibt, muss er gegenüber wirtschaftlicher Einflussnahme auf seine Repräsentanten souverän sein. Deshalb bedarf es dringend einer neuen Kultur der Unabhängigkeit und einer besseren Transparenz staatlicher Strukturen und politischer Zusammenhänge. Denn letztlich gilt: „Wes Brot ich fress, des Lied ich sing.“

(Foto: Reichstagskuppel, cc bymuellermartin)