234. Sitzung, 18.04.2013, TOP 31:

Der Pflegefall ist der Ernstfall der Solidarität. Nicht nur im Familienverhältnis. Ein guter Freund erleidet einen Schlaganfall, die Schwiegermutter wird dement. Solche Ereignisse werden häufig als existenzielle Brüche im gewohnten Alltag erfahren, ändern vieles, verlangen große Umstellungen und führen die Beteiligten schnell an psychische und physische Grenzen.

Sowohl Angehörige als auch Freunde und Bekannte erfahren diese Situationen oft als innere Verpflichtung, zu helfen, und erwarten dabei die Unterstützung ihres Umfeldes, gerade auch die des Arbeitgebers. Ihnen hierfür den erforderlichen Raum zu geben, sollte deshalb Ziel sein, weil damit die Würde der Pflegebedürftigen als auch der diesen Menschen nahestehenden Personen respektiert und gewährleistet wird. Soweit derartige solidarische Leistungen zur Verfügung stehen, werden damit auch öffentliche Hilfsstrukturen entlastet.

Nun lassen sich für das Arbeitsverhältnis durchaus unterschiedliche Modelle vorstellen, mit denen dem Wunsch von Beschäftigten entgegengekommen werden kann, eine Auszeit für die Pflege zu nehmen. Eingehend hat dazu der Familienausschuss eine Anhörung durchgeführt. Die Bundesregierung hat sich für den Bereich der Beamtinnen und Beamten entschieden, das Familienpflegezeitmodell für die Tarifbeschäftigten wirkungsgleich zu übernehmen. Von allen denkbaren Möglichkeiten hat sie sich letztendlich, wie bei den Tarifbeschäftigten auch, damit für die maximal eigenverantwortliche – früher hätte man gesagt: neoliberale – Lösung entschieden. Eine solidarische Leistung, etwa in Gestalt der von Verdi vorgeschlagenen erweiterten Anerkennung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten für die Versorgung, ist nicht vorgesehen. Deutlich wird: Die Pflege soll an dieser Stelle nur keine weiteren Kosten produzieren, die Solidarität der Menschen miteinander und untereinander wird als selbstverständliche, also erwartete und damit nicht weiter finanziell unterstützenswerte Pflicht abgebucht. Diese hochabstrakte Erwartungsschablone passt aber nicht mehr auf die vielfältigen Lebensverhältnisse unserer Gesellschaft. Unausgesprochene Wirklichkeit an dieser Stelle zudem: Tatsächlich gemacht wird die Arbeit nach wie vor überwiegend durch Frauen.

Gleichzeitig wird im Beamtenverhältnis die Selbstbestimmung der Betroffenen unter Verweis auf ihre Treuepflicht klar eingeschränkt. Denn nach dem Entwurf der Bundesregierung steht die Wahrnehmung der Pflegezeit unter Vorbehalt der Zustimmung des Dienstherrn. Zunächst wollte die Koalition sogar die Verlängerung der Dienstzeit anordnen können, hat davon aber im Änderungsantrag dann doch Abstand genommen. Formal mag es zumindest mit Blick auf einzelne Ausnahmebereiche des öffentlichen Dienstes und unter Verweis auf die Funktionsfähigkeit der Verwaltung nachvollziehbar und auch zulässig sein („zwingende dienstliche Gründe“), dass die Lücke einer Pflegezeit vermieden werden muss. Für die große Mehrheit der Beamten gilt dies jedoch nicht. Und an sich sind Arbeitsplätze so zu organisieren, dass für solche Ausfälle Kompensationsmöglichkeiten bestehen, weil diese mehr als erwartbar sind. Zudem kann der Forderung der Gewerkschaften nach einem Rechtsanspruch auf Wahrnehmung der Pflegezeit im öffentlich-rechtlichen Verhältnis nicht das allein für den privatwirtschaftlichen Bereich passende, aber auch dort schwierige Argument entgegengehalten werden, die Arbeitgeber würden bei einer gesetzlichen Verpflichtung jegliche Akzeptanz des Gesetzes verweigern.

Der Begriff der Angehörigen ist im Gesetzentwurf zu eng definiert; wir teilen da die Kritik der Gewerkschaft. So müssten auch bloße leibliche Kinder in häuslicher Gemeinschaft, welche nicht adoptiert sind, beispielsweise mit erfasst sein. Auch müsste die häusliche Umgebung auf teilstationäre Pflege erweitert werden.

Die zeitliche Begrenzung auf 24 Monate überzeugt angesichts längerwährender Erkrankungen nicht, auch wenn es dort eine einmalige Verlängerungsmöglichkeit gibt. Die ebenfalls vorgesehene Beibehaltung einer wöchentlichen Mindestarbeitszeit, die von der Koalition auch noch als Schutzmaßnahme verbrämt wird, passt in dieser Starrheit nicht für schwerwiegendere Pflegefälle. Wir teilen die Auffassung von Verdi, dass es gerade hier besonderer Flexibilität bedarf, damit das Angebot wahrgenommen werden kann. Auch der Kritik der Gewerkschaften an den vorgesehenen Modalitäten des Vorschusses schließen wir uns an.

Die durch den Gesetzesvorschlag beabsichtigte Flexibilisierung des Ruhestandseintritts ist im Grundsatz zu begrüßen. Zugleich lässt sich der Vorwurf der Gewerkschaften nicht von der Hand weisen, dass hier über den Umweg der Familienpflegezeit an der Lebensarbeitszeitverlängerung gedreht werden soll. Wer die Pflegezeit in Anspruch nimmt, mag vereinzelt froh um die ermöglichte Verlängerung der Dienstzeit und die ermöglichte Abgeltung des Vorschusses sein. Aufs Ganze besehen aber müssen die individuellen Folgen solcher Verlängerungen im Blick behalten und organisatorische Folgen in Gestalt etwa des Erlahmens der Nachwuchsförderung und Neueinstellung vermieden werden. Das Nutzen der Erfahrung älterer Bediensteter kann nur Hand in Hand mit einer wirksamen Konzeption der Sicherung der Weitergabe dieses Wissens erfolgen. Eine generelle Kultur des längeren Arbeitens ist voraussetzungsvoll; es genügt nicht, höhere Lebenserwartungen zu konstatieren.

In der Summe ergeben sich wegen der genannten Hürden bei der Antragstellung Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Verfolgung des Gesetzesziels. Im privaten Bereich gilt die Regelung ja bereits wegen der fehlenden Verbindlichkeit und der Ablehnung durch die Arbeitgeber als de facto gescheitert. Für den Beamtenbereich drängt sich ebenfalls auf, in wie vielen Fällen wohl unter Verweis auf den Fachkräftemangel die Zustimmung verweigert werden wird.

Nicht akzeptabel ist aber auch, dass gleichstellungspolitisch nicht gegengesteuert wird. Die Tatsache, dass ganz überwiegend Frauen die Pflege übernehmen, zementiert spätere Benachteiligungen beim Wiedereinstieg. Die Bundesregierung spricht dieses Problem im Gesetzentwurf an. In einer kühnen Prognose attestiert sie sich selbst einen wertvollen gleichstellungspolitischen Beitrag, weil die Pflegezeit die größte Wirkung bei Vollzeitbeschäftigten entfalte, und diese seien ja nun überwiegend Männer, also würden zukünftig Männer mehr Pflege übernehmen. Diese Art der Rechnung, die unter Ausschluss der Realität, sprich: der zentralen Frage nach dem Hauptverdiener in den Familien, vorgeht, belegt gleichstellungspolitisch ein hohes Maß an Ignoranz.

Wie in den anderen Anträgen dieser Koalition zum Dienstrecht auch wird recht salopp ein Zusammenhang mit dem demografischen Wandel und der eigenen Strategie gegen die möglichen negativen Folgen hergestellt. Schon angesichts der prognostizierten 250 Anträge pro Jahr darf bezweifelt werden, dass wir es hier insoweit mit einem Instrument hinreichend signifikanter Reichweite zu tun haben, um grundlegende, die gesamte Bevölkerung betreffende Veränderungen mit steuern zu können. Meine Kollegen sprechen im Hinblick auf Frau Schröders Familienpflegezeitregelung von Symbolpolitik; dem kann ich mich hier für den Bereich des Dienstrechts anschließen. Eine verlässliche Pflegestruktur mit professionellen Pflegestrukturen und auch der oftmals angesprochene Pflegemix stellen strukturelle Ziele dar mit potenziell weitgehenden Entlastungswirkungen für alle Beteiligten, die insoweit deutlich über das von der Koalition propagierte bürgerliche Modell des Rückzugs in die Familie hinausweisen. Leider verweigert sich diese Koalition einer solchen Modernisierung. Die Folgen könnten schwerwiegend ausfallen, wenn der längst ausgerufene Pflegenotstand sich weiter manifestiert. Die Untätigkeit der letzten vier Jahre ist dann als verlorene Zeit bei der Gestaltung einer effektiven und die Menschen tatsächlich erreichenden Pflegeregelung zu verbuchen.

Wir werden den Anträgen der schwarz-gelben Koalition nach alledem deshalb nicht zustimmen.